Ausstellung „Dichterleben im Mittelalter“
Mittwoch, 17. April 2019
Konzept und Vorgeschichte der Ausstellung
Die Dichtkunst ermöglicht es uns wie kein anderes Medium, über Jahrhunderte hinweg in eine andere Gedankenwelt vorzudringen, immer aufs Neue herauszuhören, was dieser sogenannten schönen Literatur an Weltwissen, Werthaltungen und Gefühlen mit eingeschrieben ist. Manchmal sind es einzelne Sätze, die daraus hervorstechen, weil sie zentrale Lebensbotschaften gleichsam auf den Punkt bringen. Die spannenden Fragen dazu lauten Von welchen konkreten Lebenswelten, Textzusammenhängen und Motivationen sind diese historischen Kurzmitteilungen getragen, und was sagen sie uns noch heute?Um Antworten darauf zu finden, trafen in der Ausstellung „#dichterleben ‒ Mittelalterliche ‚tweets‘ aus der Steiermark“ im Steiermärkischen Landesarchiv zwischen Mai 2016 und Juli 2018 fünf namhafte Schriftsteller aus der mittelalterlichen Steiermark als lebensgroße Figuren aufeinander und erzählten in einer Art Dichterwettstreit ihre ganz persönliche Erfolgsgeschichte: Ulrich von Liechtenstein, Herrand von Wildon, Hugo von Montfort, Bruder Philipp von Seitz und der Mönch Andreas Kurzmann. Passend zum sprachkreativen und zugleich autobiographischen Ansatz der Ausstellung, verbindet alle diese Wortkünstler der sprechende Ausstellungstitel Dichterleben. Durch Buchstabenschüttelungen dieses Titels konnten als Anagramme ganz individuelle Untertitel gewonnen werden, die – Zufall oder nicht – gut zu jedem der fünf Autoren passen; ihr Wortlaut wird auf der Projektseite http://gams.uni-graz.at/context:lima?mode= dichterleben verraten bzw. zu Bruder Philipp schon hier weiter unten.Die Ausstellung wurde 2015/16 vom Universitätsverein Steirische Literaturpfade des Mittelalters in Zusammenarbeit mit dem Sparkling Science Projekt Arbeitskoffer gestaltet und bot vielfältige Möglichkeiten, mit Literatur und Sprache des steirischen Mittelalters in Berührung zu kommen und in die Lebens- und Vorstellungswelt der Dichterpersönlichkeiten einzutauchen. Im Sommer 2018 war es für die Poeten schließlich an der Zeit, ihre Zelte in der Landeshauptstadt abzubrechen und dort hin zu reisen, wo sie eingeladen waren, ihre literarischen Botschaften weiter zu erzählen: Ulrich von Liechtenstein, Herrand von Wildon und Andreas Kurzmann übersiedelten in die Heimatorte ihrer Literaturpfade nach Unzmarkt-Frauenburg, Wildon bzw. Neuberg an der Mürz, Graf Hugo von Montfort fand Aufnahme in Frohnleiten nicht weit von seiner Pfannburg entfernt, und Bruder Philipp der Kartäuser aus dem slowenischen Kloster Seitz/Žiče wanderte ins Stift Admont und damit in die Nähe des dortigen heilkundlichen Literaturpfades. Über ihre Portale bleiben alle steirischen Autoren weiterhin virtuell mit den Followern in Kontakt. Wie sich unsere Dichter im Steiermärkischen Landesarchiv über zwei Jahre hinweg erfolgreich präsentiert haben, lässt sich in diesem virtuell archivierten Rundgang hautnah nacherleben: 360 Grad Rundgang durch die Ausstellung im Steiermärkischen Landesarchiv: http://gams.uni-graz.at/lima/dichterleben360
Gemäß dem ursprünglichen Konzept bildet in jedem der fünf Ausstellungsmodule die sog. Twitter-Nische den Mittelpunkt: Sie lädt zum Verweilen ein, zum Lesen der ausgewählten, unter dem Nischenbogen baumelnden Dichtersprüche und zum Schmökern in der Anthologie „Literarische Verortungen“. Des Weiteren kennzeichnet jedes Modul – so auch das zu Bruder Philipp von Seitz ‒ eine Ich-Seite links und eine Er-Seite rechts: In ersterer spricht der Autor auf 3 Tafeln über sich selbst (unterstützt vom Ausstellungsleiter), in zweiterer wird auf ebenfalls 3 Tafeln über ihn gesprochen (geleistet von Dr. Gernot Obersteiner, dem Direktor des Steiermärkischen Landesarchivs); ergänzt wird jede der beiden Seiten durch illustrierende Schautafeln zum Autor (links) sowie (rechts) zu seiner historischen Lebenswelt. Diese Spiegelung zwischen der Innen- und Außensicht bildet sich auch in den links und rechts von der Nische angebrachten Bannern ab: Auf der linken dichterleben-Seite sind aus dem Haupttext des Autors jene Passagen bzw. Botschaften hervorgehoben, in denen der Autor etwas über sich selbst aussagt; rechts finden sich (unter dem programmatischen dichterleben-Anagramm) Sätze aus einem weiteren Textabschnitt hervorgehoben: Sie beziehen sich in einer Art Er-Perspektive auf Ereignisse und Figuren aus dem Erzählgebäude.
Philipp von Seitz
Über Bruder Philipps Leben ist nur bzw. immerhin dies bekannt: Er war Kartäusermönch und lebte um 1300 in der Kartause Seitz in der Untersteiermark (heute Žiče in Slowenien). Im Jahr 1316 gründete er mit sechs anderen Seitzer Mönchen die Kartause Mauerbach bei Wien, wo er 1345 oder 1346 verstarb. Seine Herkunft ist nicht gesichert, aber Untersuchungen seiner Reime haben ergeben, dass er vermutlich aus der mittel- oder norddeutschen Region stammte.Bruder Philipp ist der Verfasser des „Marienlebens“, einer 10.000 Verse starken ‚Biographie‘ der Gottesmutter. Dieses herausragende Werk ist vermutlich zwischen 1300 und 1316 in Seitz entstanden. Er hat dieses Werk den Rittern des Deutschen Ordens gewidmet, die auch für dessen Verbreitung gesorgt haben. Heute kennen wir noch über 100 Textzeugen des „Marienlebens“, womit es die überlieferungsreichste Dichtung des deutschsprachigen Mittelalters ist. Man kann also von einem mittelalterlichen ‚Bestseller‘ sprechen, zumal neben den rund 100 Handschriften auch spätmittelalterliche Prosaauflösungen und viele Teilüberlieferungen bekannt sind. Im „Marienleben“ werden Stoffe aus der Bibel, aber auch apokryphe Inhalte wiedergegeben. Philipp orientiert sich frei an einer lateinischen Vorlage, wobei er die einzelnen Episoden daraus zu einem zusammenhängenden Handlungsverlauf formt. Erzählt wird das gesamte Leben: von Marias Eltern, Joachim und Anna, überMarias Vermählung mit Josef und der Geburt Jesu. Er berichtet von der Flucht der Familie nach Ägypten, der Rückkehr und dem Wirken Jesu bis zu dessen Passion und Auferstehung. Philipp schließt mit Marias Lebenswandel nach der Himmelfahrt ihres Sohnes und ihrem Tod, eigenen Himmelfahrt sowie ihrer Krönung zur Himmelskönigin. Die dichterische Mission des Kartäusermönchs Philipp von Seitz auf sein Dichterleben-Anagramm Belichtender zu reduzieren, mag auf den ersten Blick zu kurz gegriffen wirken. Versteht man jedoch seine bis heute europaweit bekannte, weil in so vielen verstreuten Handschriften erhaltene Dichtung als einen Beitrag zur vielleicht strahlendsten und in all ihrer Buntheit reinsten Marienverehrung, die je verfasst wurde, so hat er tatsächlich auf besondere Weise eine Art von überirdischem Lichtstrahl auf die Welt des Mittelalters geworfen. Im Stift Admont ist er willkommen, da dort jene Handschrift mit Auszügen aus seinem umfangreichen „Marienleben“ aufbewahrt wird, die schon in der Ausstellung im Landesarchiv zu bestaunen war. Außerdem beginnt beim Stift der Literaturpfad zum „Admonter Bartholomäus“, und das passt wunderbar: Während nämlich dieser Pfad rund ums Stift hauptsächlich für das körperliche Wohlergehen zuständig ist, kümmert sich Bruder Philipp im Stift um die literarische Seelsorge.
Öffnungszeiten und Ansprechpersonen
Während der Museumssaison oder nach Voranmeldung im Archiv- oder Bibliotheksbereich des Stiftes: MMag. Prior Maximilian Schiefermüller O.S.B., Mag. Dr. Karin Schamberger MA
Ausstellungsleitung
Ao. Univ.-Prof. Dr. Wernfried Hofmeister seitens des Universitätsvereins „Steirische Literaturpfade des Mittelalters“: https://literaturpfade.uni-graz.at